Ein Traum mit Mateo (4.5.1981 -
7.11.1996)
Sehr selten träume ich von Dir,
lieber Mateo, Du bist eben zu jeder Stunde in meinen Gedanken und schaust mir
über die Schulter. Aber Du bedrängst mich nie.
Doch neulich warst Du in meinem
Traum. Als wenn ich zwei Schatten hätte. Wir waren in einem kürzlich
fertiggestellten Haus, das sich in einer Reihe von gleichen Häusern befand. Den
vielen Möbeln nach zu urteilen und dem relativen Chaos, das in den Räumen
herrschte, hatte es sich unsere Familie schon recht gemütlich gemacht. Durch das
Schiebefenster schauten wir auf einen kleinen, noch verwilderten Garten.
Dahinter erstreckte sich das lange, einstöckige Gebäude des Krankenhauses. Auch
bei uns gab es nur ein Stockwerk. Vor den Reihenhäusern war eine kleine Zufahrt,
die in einer Sackgasse endete. Dahinter und an den Seiten ging unser Blick in
einen herrlichen, alten Buchenwald. Jetzt im Frühling erglänzten die Blätter im
frischesten Grün, besonders wenn die Sonne darauf fiel. Licht und Schatten
tanzten unter den hohen Stämmen auf dem rötlich braungrauen Humusboden.
Merkwürdigerweise dachte ich an ein kleines Reh auf einer
Lichtung.
Was mich besonders freute, war, dass
nach vorne und hinten nichts verbaut werden konnte, und die Stille erhalten
blieb. Vom Krankenhaus her war kein Laut zu vernehmen, fast beängstigend. Warum
wollte ich nur gerade den Blick auf ein Krankenhaus erhalten? Sollte er mich an
etwas erinnern (Mateo ist an Knochenkrebs gestorben. Eineinhalb Jahre haben wir
um sein Leben gekämpft)?
Eines Tages wollte ich meinen
Antrittsbesuch bei den Nachbarn machen. Unser Haus war das erste gleich vorn
links. Du, Mateo, kamst mit mir. Von dem Rest der Familie hatte ich schon seit
Tagen nichts gehört. Waren sie vielleicht verreist? Mir war so gar nichts klar.
Auch hatte ich eigentlich, bis auf Dich, mein Lieber, von den Menschen um mich
her noch gar nichts wahrgenommen. So war es auch mit den Nachbarn. Alles war
irgendwie erstorben. Oder war ich es?
Wir klingelten an der Haustür neben
uns, ohne dass wir große Hoffnung gehabt hätten, jemanden anzutreffen. Nach
einer Weile aber rumorte es hinter der Tür. Dann öffnete jemand vorsichtig. Er
war klein, hatte einen kahlen Schädel, ein rundes Gesicht und große, dunkle,
durchdringende Augen. Er schien nicht unfreundlich zu sein. Ich sagte: "Guten
Tag, wir sind Ihre Nachbarn und wollten uns nur einmal kurz vorstellen." "Kommen
Sie herein, wir proben gerade", sagte er und mit einer theatralischen Geste, die
mich an Rokoko erinnerte, verbeugte er sich, und dann wies sein Arm hinein in
den Raum auf fünf, sechs Gestalten, die bei unserem Anblick wie Salzsäulen zu
erstarren schienen. Fast schuldig fühlte ich mich für die Unterbrechung ihres
Spiels. "Wir können gern ein anderes Mal kommen, wir haben es ja nicht weit",
versuchte ich halb scherzhaft-schüchtern zu sagen. "Ach, Gott bewahre", sagte
der Türsteher, "treten Sie ein, schauen Sie sich alles an, wir proben für eine
baldige Aufführung in diesem neuen Theater."
Warum hatten wir bloß nie etwas
gehört? Ja, es war so leise, als wenn noch gar nichts geschehen wäre, wie ein
Versuch, eine Möglichkeit der Zukunft, die aber ungewiss blieb. Du, Mateo,
gingst so natürlich umher, als wenn Dir alles schon lange vertraut gewesen wäre,
wie ein Teil Deines Lebens. Der große Raum war total kahl, wie in einer
mächtigen Vorbereitung befindlich. Oben im ersten Stock war eine Galerie für die
Zuschauer, die sich weit vorlehnen konnten, um möglichst nah dem Geschehen unten
zu folgen.
Da sich nichts weiter bewegte, der
Türsteher am selben Platz verweilte, und nur Du, Mateo, wie schlafwandlerisch
durch Deine Zukunft gingst, meinte ich, sehr zu stören und zog Dich an mich. Nur
widerwillig folgtest Du mir zum Ausgang.
Als wir draußen waren, atmete ich wie
befreit von einem Alptraum und genoss die frische, sonnenerfüllte Luft, die von
dem Buchenwald herüberdrang. "Lass uns weitergehen, Mateo." "Ja, gleich ins
nächste Haus!" "Ach, können wir denn nicht erstmal die wunderbare Luft
genießen!?", versuchte ich, einen Kompromiss auszuhandeln. Denn mir war nach
anderen Menschen in den Häusern gar nicht mehr zumute, hatte ich mich doch durch
die Ansicht von eventuell Zukünftigem sehr bedrängt gefühlt und brauchte eine
Weile, um mich wieder zu fangen. "Nein, guck doch, wie schön bunt einladend die
nächste Haustür aussieht! Es wird bestimmt gut!" Und Du zogst mich in diese
Richtung, um mehr Deiner eigenen Räume von innen zu betrachten. War es wirklich
so? Befand ich mich in einem zukünftigen Traum? Ich schüttelte mich und nun war
ich es, der widerwillig von Dir zur Haustür gezogen wurde.
Die Tür war wirklich schön und
einladend. Du klingeltest, von einem Bein aufs andere hüpfend, als wenn Du es
nicht erwarten könntest. Wie erstaunt war ich, und wie ängstlich wurde ich, als
sich die selbe Zeremonie vor meinen Augen abspielte. Rumoren, Tür öffnen,
Rokoko, Salzsäuren. Nur Du, Mateo, sprangst förmlich hinein in den Raum und
suchtest Deinen Platz in heillos scheinender Unordnung, einen Platz, an dem Dir
im Zukünftigen innere Ruhe geschehen würde.
Ich ließ Dich staunend gewähren, und
nach langer Zeit sankst Du erschöpft in Dir zusammen, genau dort, wo Dein Platz
zu sein schien.
"Es ist gut, lieber Mateo", sagte
ich, "komm, ich helfe Dir auf, wir wollen nun gehen." Du ließest Dir helfen und
folgtest mir vertrauensvoll, wie nach einem langen Traum. Draußen genoss ich
wieder die befreiende Luft.
Es konnte nicht lange währen, denn
mit sanfter, aber bestimmter Gewalt zogst Du mich schon zur nächsten Tür. Wieder
die gleiche Prozedur. Ich blieb drinnen wie angewurzelt stehen, hilflos, ohne
jede eigene Kraft und sah Dich in Deiner Zukunft. Niemand konnte Dir helfen.
Dein Weg war für Dich, ich durfte Dich nicht begleiten.
Nur schwer fand ich wieder zu mir.
Ich weiß nicht mehr, ob wir zusammen hinausgegangen sind. Irgendwie schienst Du
mir zu entgleiten oder ich musste lernen, Dich zu lassen.
Es war, als wenn mir ein Licht
aufginge. Alle diese Häuser neben uns mit ihren großen, kahlen, wandlosen Räumen
waren Deine Zukunft, wie eine Verbotene Stadt, die ich eigentlich nur erahnen
durfte.
Ich spürte, wie ich mich unter die
Buchen auf einen Stein setzte. Die Tränen liefen mir übers Gesicht. War es aus
Freude, weil ich Dich gesehen hatte oder aus Trauer, weil Du mir nur noch
Erinnerung warst? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Du mir immer nah
bleibst, lieber Mateo. -
Rainer v.
Harnack