Kathrin Schadt beschreibt
aufrichtig und einfühlsam die Einsamkeit von Eltern, die ein Kind verlieren,
bevor es überhaupt gelebt hat.
Denken wir an Tod und Sterben, scheint es uns selbstverständlich, dass ein
Mensch nach einem langen, erfüllten Leben stirbt. Das entspricht am ehesten dem,
was wir für natürlich und gerecht halten.
Der Tod eines Kindes ist schon aufgrund dieser Annahme viel schwerer zu
akzeptieren. Was aber, wenn dieses Kind außerhalb des Mutterleibes kaum oder gar
nicht gelebt hat? Lange Zeit hat man das Problem dahingehend gelöst, dass man
diesen Kindern keinen Status als vollwertige Menschen beigemessen hat. Sie
erhielten weder Geburts- noch Sterbeurkunde, geschweige denn ein Grab.
Stattdessen entsorgte man sie mit den übrigen Fleischabfällen, die in einem
Krankenhaus anfallen.
Auch wenn es hier Fortschritte gegeben hat, mittlerweile werden Dokumente
ausgestellt, die Eltern können ihre Kinder beerdigen, ist doch die Ansicht
weiterhin weit verbreitet, die Trauer von Eltern, insbesondere von Müttern, die
ihr Kind so früh verlieren, nicht als echte, vollwertige Trauer
anzuerkennen.
Auch davon handelt dieses Buch, dessen Titel sich übrigens von einer sehr
seltenen, vom Aussterben bedrohten, in Japan beheimateten Lilienart ableitet,
und mit reines Herz, oder wahre Schönheit übersetzt werden kann.
Kathrin Schadt legt mit Lilium Rubellum ein Buch vor, dessen Inhalt sehr
verdichtet ist, und dessen Sprache poetisch. Viel Form und Stil, mit denen ein
schweres Thema, eines über das gemeinhin lieber geschwiegen wird, bewältigt
werden soll. Da steht kein Wort zu viel. Dabei hätte ich persönlich gerade zu
Anfang des Buches gerne ein paar Worte mehr gelesen, mir eine ausgedehntere
Geschichte gewünscht. Kathrin Schadt hat eine andere Entscheidung getroffen. So
kommt ihr erstes Kapitel ohne Gespräche aus, ohne Charaktere, Räume und
Gesichter. Es gibt keine Stimmen, nur die Entfremdung, die Unsicherheit, und zu
guter Letzt eine kleine Freude über eine Schwangerschaft, die nicht geplant
war.
Die Diagnose, die den eigentlichen Kern des Romans bildet, wird in drei
leicht variierenden Versionen beschrieben. Die Geschichten, die erzählt werden,
haben einen identischen Ausgangspunkt; eine Frau ist schwanger, ihr Kind schwer
behindert. Was sich unterscheidet, ist die Art der Diagnose, abhängig vom
Zufall, davon an welchen Arzt die werdende Mutter gerät, und wie er die Diagnose
stellt, welche Räume er öffnet, oder welche Türen er schließt.
Während zunächst die professionelle Verdrängung die Oberhand hat, findet in
einer anderen Fassung eine Auseinandersetzung mit dem was ist statt. Einmal wird
die junge Mutter gedrängt, überrumpelt, allein gelassen, einmal wird mit einer
Beratung, Raum geschaffen für eine eigene Entscheidung. Einmal lässt sich die
Schwangere drängen, gibt nach und auf und das andere Mal besinnt sie sich auf
sich, weiß, es gibt keine richtige Entscheidung, nur ihre eigene Entscheidung,
die mit der sie leben muss. Jahr für Jahr.
„So oder so, steckte mein Kopf schon im Rachen des Ungetiers. Was dabei
herauskam, spielte bereits keine Rolle mehr. Weil ich es nicht sein würde. War
es egal, was man noch tragen konnte, weil die Last schon alles verändert
hatte.“
Wenig später werden die ersten Bewegungen des Kindes spürbar, und da ist
niemand mit dem die werdende Mutter diese einzigartige Erfahrung teilen
kann:
„Jede Bewegung ein brennender Trost. [...] Weil wir dich bei uns behalten
hatten, unüberschaubar in deinem Ausmaß.“
In der dritten Version eines möglichen Verlaufs wird Hilfe geleistet, nicht
mehr oder weniger aktive Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben.
Statt einer Austreibung findet eine normale Geburt statt, die Kathrin Schadt
sehr eindringlich, sehr berührend beschreibt:
„Und du wurdest nicht geholt, brachtest dich selbst, den Blick Richtung
Sterne und ein Vollmond, der uns den Weg wies. Lebtest du ein bisschen.
Öffnetest die Augen, gewährtest uns die Erinnerung. Auch an deine Stimme, die
nicht mehr zu löschen ist, nie mehr. Und nichts was wir uns ausgemalt hatten.
Deine Augen nicht, dein Weinen nicht. Um fünf vor Zwölf, halb erschossen Geist
und Sinn, versank ich in deinen Anblick, während mein Blick dich nicht halten
konnte. Und alles fiel, dein Anfang, fiel in dein Ende fiel in Anfang in Ende
fiel und wir hielten dabei deine Hand. Lernten dich so schnell wir konnten
kennen, in allen Einzelheiten missen. Auch er, der dich mit einem Mal sehen
konnte. Und jeder auf seine Weise, trieb das Wir auseinander. Das ab jetzt ohne
uns sein würde.“
Schwer auszuhalten, wie Schadt den Abschied beschreibt, minutiös auf einmal,
bild- und detailreich.
„Natürlich. Schaute ich alle paar Augenblicke nach dir, um jedes Mal aufs
Neue mit dir zu sterben. Und ich wickelte dich in dein Grabtuch und ich hielt
dich. Solange, solange, solange es ging.“
Sowohl in der einen als auch der anderen Möglichkeit mit der Diagnose ein
vermutlich nicht lebensfähiges Kind in sich zu tragen, wird die Einsamkeit der
werdenden Eltern geschildert, die Unmöglichkeit dieses Erlebnis, dieses
Schicksal miteinander zu teilen.
„Wir war nicht mehr das alte und wir fanden kein neues. Weil wir uns nicht an
zwei erinnern konnten, nachdem Wir einmal drei war. Bleibt ein Fehlen, bleibt
ein Anderes, ein Zwischen Sein, ein Ohne uns.“
Der Riss, der nach einer derartigen Erfahrung nicht nur durch die Welt geht,
alles in vorher und nachher teilt, sondern auch durch Mann und Frau, Vater und
Mutter, ist auf jeder Seite spürbar.
Der dritte und letzte Teil des Buches schildert schließlich die Zeit danach,
die Zeit nach der Geburt, die gleichzeitig die Zeit nach dem Tod des Kindes
ist.
Das Experimentelle der Form, das mich anfangs irritiert hat, empfinde ich
nach der Lektüre als angemessenen Versuch das Unfassbare, schwer auszudrückende
der Trauer zu formulieren, ihm eine ganz eigene Form zu verleihen.
Die fast reflexartige Verdrängung und Verleugnung des Säuglings als
vollwertiges Menschenwesen zum vermeintlichen Schutz vor Kummer und Trauer, wird
an keiner Stelle angeklagt, stattdessen beschreibt Kathrin Schadt die
Auswirkungen in aller Deutlichkeit und ohne etwas zu beschönigen.
Lilium Rubellum ist kein leichtes Buch, kein schönes Buch, aber eines, das
man aushalten sollte und das wegen seiner Aufrichtigkeit Anerkennung verdient
und vielleicht mit seinem großen Verständnis sogar trösten kann.
Quelle:
http://www.fixpoetry.com
Ich selbst habe mich noch nicht an eine Rezension herangetraut. Zu besonders ist das Buch, zu nah bin ich an Mutter und Kind! Ich habe es mit tiefer Rührung gelesen, verstört," begeistert", traurig und mit vielen inneren Bildern. Noch fehlen mir selbst die Worte.... Eine Empfehlung!!!