Montag, 1. Juli 2024

Gedanken zum 1. Juli 2024

 


 Du bist nirgends – weil du überall bist

 Where you are is where you are not

T.C. Elliot

 

“Wenn noch etwas da ist, hält es sich im Schatten auf, an Stellen, wo das Licht (und das Auge) gerade nicht mehr hinreicht. Kein Himmel, sondern Erde. Kein Engelchen, sondern ein Schattenkind.“

P.F. Thomése

 

In Annäherung an den 24. Todestag von Florian greife ich nach langer Zeit wieder einmal zu Literatur, wie Jahren auf der Suche nach Trost und Erklärung des fürchterlichen Geschehenen. Ich stieß auf das Buch von P.F. Thomése – dessen Titel mich aus dem Regal der Trauerliteratur ansprang. SCHATTENKIND.

Wo in meinem jetzigen Leben ist Florians Platz?

Ich schreibe kaum noch über Trauer, ich habe viele Rituale, die mir jahrelange Gewohnheit geworden waren, abgelegt. Die Kerze an seinem Platz hier im Haus – aber auch in Connemara – brennt nur noch ab und an. Florians Grab, das wir um 10 Jahre verlängert haben, ist – trotz seiner Bedeutung – ein Ort, den ich immer seltener aufsuche.

Ich bin alt geworden in 24 Jahren und seit einiger Zeit gebrechlich, verletzlich in meinem Körper. Ich bitte Florian gedanklich öfter um Verständnis für meine Unzulänglichkeiten und danke zugleich, dass ich mich frei fühle. Aber liebe ich Florian weniger? Beginne ich, meinen Sohn zu vergessen?

Florians Tod warf für viele Jahre einen unüberwindbaren Schatten auf mein Leben. Alles maß sich an seiner Abwesenheit, an der Trauer, die mich zu verschlucken schien. Es war ein Schattendasein, in das ich mich geworfen fühlte und in dem ich mich einrichtete.

 Irgendwann begriff ich, dass es an der Zeit war, aus Florians Schatten zu treten, um mich als eigener Mensch neu definieren. 

Die Trauer war auch zu einem ein Schutz geworden. Sie hatte mir eine neue Würde verliehen - Sicherheit und Distanz zu allen Lebenden um mich herum, denn niemand konnte mir folgen dorthin, wohin mich mein Schicksal geworfen hatte. Es war beinahe, als würde er leben und ich sei gestorben.

Alles drehte sich um Florian - alles, was ich dachte, tat, was ich erlebte, alles hatte ich der Trauer untergeordnet.

Aus seinem Schatten zu treten empfand ich zunächst wie einen Verrat, bis mir bewusst wurde, dass - solange ich Florian liebe - ich auch mit der Trauer leben werde. Sie ist so unverlierbar wie die Liebe!

 „Die verlierbaren Lebenden und die unverlierbaren Toten“….  Hilde Domin

Das Leben aufzunehmen, sichtbar zu werden, mich ihm mit allen Aufgaben, die da warteten, zu stellen, Neues zu kreieren, war unglaublich schwer. Ich musste den Cocon der Trauer sprengen, den Sprung ins Ungewisse wagen. Das kostete Mut, viel Mut und viel Kraft. Es hat sich gelohnt und ich bin stolz, es gewagt und geschafft zu haben: Ich bin Überlebende. 

 Wir alle, die wir ein Kind verloren haben, sind Überlebende. Und wir sind und bleiben MÜTTER unserer verstorbenen Kinder.


Gabriele

29. Juni 2024

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Die schwersten Wege

Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehn
hilft nicht. Es muss
gegangen sein.

Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen.

 Von Hilde Domin

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