Karte: „I want my mother“ und Brief
(ohne Datum – Florian verlässt Camphill und zieht nach Dublin)
Hallo, meine liebste Mom!
Es ist Donnerstag, 1.30 nachts
und all die Aufregung über die bevorstehenden Veränderungen lassen mich einfach
nicht schlafen. Ich sitze unten in meinem Zimmer und stöbere durch die Regale
und neben mir füllen sich Kisten mit meinen Habseligkeiten.
Es geht plötzlich so schnell, ein wenig zu schnell!!
Geplant war ein sanfter Ausstieg
aus Camphill – er wird nun in rasanter Form Realität.
So traurig auch alles ist, so
glücklich bin ich andererseits. Ich gebe eine weitere Heimat auf, um eine neue
zu entdecken.
So tief meine Wurzeln auch sind,
auch sie lassen sich ausgraben und verpflanzen. Zwar habe ich gelernt, daß
Verpflanzen sehr viel Vorsicht und Muße bedarf, aber wenn die Umstände nicht
ideal sind, muß man sich eben sputen, den Baum schnell aus- und wieder
einzugraben. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit so höher, daß die Wurzeln so zu
Schaden kommen, aber die Pflanze übersteht diesen Schmerz schnell und hat sich nach
ein paar Tagen oder Wochen von diesem Schock erholt.
Ich hoffe, dieser Prozeß wird
auch bei mir ähnlich verlaufen und der Schmerz läßt mich nicht daran hindern,
die Qualität der neuen Umgebung genieße und schätzen zu lernen.
Ich werde wohl kaum die Häuser,
die Farm etc. vermissen, als vielmehr all‘ die Clydes und Dereks. Sie haben
mich gelehrt, verantwortungsvoll, einfühlsam und in gewisser Weise selbstlos zu
sein. Von ihnen habe ich auch gelernt,
wie wenig man braucht, um glücklich zu sein. Und ich konnte ihnen helfen, ihr
Glück und ihre individuellen Qualitäten mehr zur Entfaltung zu bringen. Ich
habe gelernt zu geben – nicht weil ich mußte, sondern weil sie es brauchten.
All die Specials haben mir gezeigt, wer ich bin, mehr geholfen, mich zu finden.
Ich glaube, ich weiß jetzt, wer ich bin, kenne meine Stärken und Schwächen. Ich
verdanke ihnen so viel und es macht mich unendlich traurig, all dies hinter mir
zu lassen. Well, aus Beewee wird wohl allmählich wieder Florian!
Tja, jetzt sitze ich hier, mitten
in der Nacht, und wieder kommt in mir dieses Gefühl von endloser Leere auf. Das
selbe Gefühl hatte ich vor fast drei Jahren. Damals bestieg ich das Flugzeug,
um meine Heimat zu verlassen. Ich saß da, über den Wolken, in die Ferne
starrend und habe mich meinem Schicksal übergeben. Heute weiß ich, daß es die
beste Entscheidung meines Lebens war und hoffe, daß ich das selbe in ein paar
Jahren auch über meine momentane Situation sagen kann.
Und heute ist die Ausgangsbasis
ja eigentlich sogar besser. Damals habe ich mich gegen eine gefestigte Zukunft
entscheiden, heute entscheide ich mich für sie – so hoffe ich jedenfalls. Der
Vorteil damals war, daß ich ausschließlich für mich gehandelt habe,
heute ist auch ein großer Schuß uns im Spiel. Aber ich habe hier ja
gelernt, für uns verantwortlich zu sein und für uns zu handeln, ohne mich dabei
zu vergessen und zu übersehen.
Für alles gibt es eben eine Zeit.
Ich mußte mir vielleicht erst einmal gewisse Dinge aneignen, um einen weiteren
Schritt machen zu können. Jetzt bin ich bereit, auch wenn Abschied immer
schmerzt!
Das Gute ist, daß ich auf meiner
Reise nie meinen Heimathafen vergesse und weiß, daß ich jeder Zeit umkehren
kann. Du hast mir den Kompaß mit auf den Weg gegeben und ich habe hier gelernt,
ihn anzuwenden. Jetzt ist es Zeit, daß ich ihn benutze, und meine Reise
fortsetze. Die Richtung ist mir bekannt, aber die Riffe und Felsen werde ich
erst finden, wenn sie vor mir liegen.
I love you und danke Dir für all
die Hilfe!
Dein „Sony“ Florian
2 Kommentare:
Du hast einen so wundervollen Sohn!
Ich wünsche Dir, dass Du immerwieder ein Zeichen von ihm in Deinem Leben spüren kannst
liebe Grüsse
Elisabeth
Gabi, wenn ich lese, welch menschliche Reife Florian als ganz junger Mann besaß, bekomme ich noch immer eine Gänsehaut. Wozu nur wenige Menschen, auch die, die viel älter sind, in der Lage sind, dazu war er fähig: Er lebte im HIER und JETZT. Als er den Brief schrieb, der in Deinem Blog zu lesen war, befand sich Florian zwischen zwei Lebenssituationen. Sehr klar erkannte er, dass nicht nur er seinen „Specials“ etwas geben konnte, sondern erkannte auch, dass sie ihn etwas lehrten. Er reflektierte diese Zeit so besonders, und er war sich so sicher (im sehr politiven Sinne) dass ihn die dort gemachten Erfahrungen auch in seiner Persönlichkeit formen würden, So stelle ich mir „bewusstes Leben“ vor. Er war kein Träumer, der glaubte, eine rosarot Zukunft vor sich zu haben, aber er war davon überzeugt, die eine oder andere Schwierigkeit zu meistern...er war geerdet. Und er wusste, was immer ihm geschehen würde, seinen Hafen hatte er bei Euch in Berlin.
Ja, liebe Gabi und das macht alles noch viel tragischer.Ihm war es nicht vergönnt, ein langes, innerlich reiches Leben zu führen, und wie immer man es deuten mag, einen Sinn in seinem frühen Tod ist nicht zu erkennen. Ihr habt Euch gegenseitig die Liebe und die Kraft gegeben, die Euer Leben stark gemacht habt – auch wenn es nur für kurze Zeit sein durfte. Nach dem WARUM zu fragen macht nur noch unglücklicher – eine Antwort gibt es nicht!
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