Freitag, 8. August 2008

Meine Trauer wird dich finden


Ein wichtiger Artikel und ein wichtiges Buch für Trauernde.


„Meine Trauer wird dich finden“


- Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit
Roland Kachler, Dipl. Psychologe und Psycholog.

Das Älterwerden bringt unausweichlich Verluste von lieben Menschen mit sich.
Ist das Älterwerden also geprägt von schmerzlichen Abschieden? Wird das Älterwerden deshalb selbst zu einer traurigen Erfahrung? Und vor allem: Wie können wir im Alter so mit der Trauer umgehen, dass dies nicht zur Verbitterung, zum Zynismus oder zur Resignation führt?
Diese Fragen drängten sich mir, der ich an der Schwelle zum Älterwerden stehe, durch den Tod meines Sohnes unendlich schmerzlich und zugleich unabweisbar auf. Ich war und bin hier nicht nur als Vater und Betroffener, sondern auch als Psychotherapeut heraus gefordert. Dabei erlebte ich die gängige Theorie der Trauerpsychologie und der Trauerbegleitung nicht nur als insuffizient, sondern ich erlebte mich in meiner Trauer, in meiner Sehnsucht nach meinem Sohn und in meiner Liebe zu ihm nicht verstanden.
Zunehmend wurde ich wütend über die sich am psychoanalytischen Denken orientierenden
Trauermodelle, wonach Trauer allein eine Abschieds- und Loslassemotion sei. Deshalb suchte ich in systemischen, hypnotherapeutischen und lösungsorientierten Ansätzen nach anderen Ideen, um die Trauer aus ihrer Festlegung auf eine „Negativemotion“ des Loslassens zu befreien.
Natürlich geht es im Verlust um ein Akzeptieren der äußeren Abwesenheit des geliebten Menschen. Aber ich habe in meiner Trauer auch etwas ganz anderes erlebt, nämlich dass ich in ihr eine andere, eine innere Beziehung zu meinem Sohn finden will. Die Trauer hat wie alle Emotionen einen systemischen Aspekt: Man kann mit den Verstorbenen nicht nicht , das heißt der Hinterbliebene muss eine - freilich nun andere – Beziehung und Kommunikationsform zum Verstorbenen finden.
In Erinnerungen zum Beispiel wird der Verstorbene wieder präsent und findet so im Hinterbliebenen einen guten, gewürdigten Platz, also einen sicheren Ort (vgl. Traumatherapie)!
Rose Ausländer drückt dies in folgenden Gedichtzeilen aus:

Nicht vorüber
Was vorüber ist
Ist nicht vorüber
Es wächst weiter
In deinen Zellen
Ein Baum aus Tränen
Oder
vergangenem Glück

Rose Ausländer

Es bleibt also eine Beziehung zum Verstorbenen, die sich entwickelt und verändert, aber letztlich bleibt. Ich habe dann ältere Menschen nach langen, über 20 Jahre zurück liegenden Verlusten wichtiger Angehöriger befragt. Fast immer wurde folgendes deutlich:
- es gibt eine bezogene Trauer, Wehmut und Sehnsucht, oft auch ein Gefühl von Dankbarkeit.
- es gibt eine Erinnerungswelt im Sinne von Hintergrundsbildern, die aktiviert werden kann.
- und es gibt eine bleibende innere Beziehung zum Verstorbenen, die immer wieder reaktiviert wird und in verschiedensten Kommunikationsformen gelebt wird.

Überraschend war dann für mich, dass Freud – anders als in seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie“ – genau wie eben beschrieben um seine Tochter Sophie trauerte. In seinen Briefen an L. Binswanger wird deutlich, dass ein Schmerz (in meiner Terminologie eine „bezogene Trauer“) und eine innere Beziehung auch noch 9 Jahre nach Sophies Tod bleibt.
Dieses neu entwickelte Verständnis der Trauer (vgl. auch mein Buch „Meine Trauer wird dich finden“, Stuttgart 2005) hilft gerade älteren Menschen, mit den Verlusten so umzugehen, dass ein inneres Beziehungsleben weiter möglich ist. Gerade hochbetagte Menschen leben zunehmend weniger in äußeren, als vielmehr in inneren Beziehungen. Das ist nicht nur in Ordnung, sondern sinnstiftend angesichts der Verluste im Alter. Deshalb können gerade ältere Menschen uns sehr viel mehr darüber berichten, wie Trauer produktiv in einen inneren Beziehungsreichtum führt und umgekehrt sollten wir Menschen im Älterwerden ermutigen, die verschiedenen Beziehungen ihres Lebens im Inneren zu leben und zu gestalten.


Roland Kachler

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