1. November 97
Liebe Gabi,
mittlerweile ist hier richtig Winter; die Luft ist klar
und kalt und verbreitet den Geruch von verbranntem Torf. Es ist, im
anthroposophischen Sinne, die Zeit des „In-Sich-Hineinkehrens“. Nachdem man im
Sommer draußen in und mit der Natur gelebt hat, zieht man sich jetzt in sich
zurück. Natürlich hat dieser Gedanke ganz reale und selbstverständliche Züge,
trotzdem denke ich, es ist gut, sich diese Tatsache noch einmal klarzumachen.
Hier liegt vielleicht auch die Antwort, warum gerade im November so viele
Menschen sterben oder Selbstmord begehen. Durch Kälte und Regen wird man zurück
in sich selber getrieben, trifft häufig Dinge, die schon längst vergessen und
überwunden schienen.
Erinnerst Du Dich, als ich Dir über diese unglaubliche
Energie erzählt habe, die mir die Sonne verlieh?! Dies war eine Zeit, in der ich
jede Minute draußen verbringen wollte, wo ich voller Ehrgeiz und Energie war.
Nun setzt der umgekehrte Prozeß ein und ich quäle mich mit Langeweile und
Desinteresse.
Ich habe mir vorher nie große
Gedanken über das Wetter und die Jahreszeiten gemacht, kann jetzt aber ihren
Einfluß und ihre Bedeutung erkennen!
Ich denke, das Problem ist nicht
die Phase an sich, sondern die Umstellung: Man muß seinen Tag, seine Freizeit
und seine Interessen neu ordnen und organisieren. Dies im Frühling sehr viel
leichter als im Herbst, da die Natur und das Draußensein weit mehr Alternativen
und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten als das Zimmer. Weniger Ablenkung und
Beschäftigungen wie Lesen & Schreiben geben einem mehr Zeit, über Zukunft,
Vergangenheit, sich selbst und andere Menschen nachzudenken.
......
Euch wünsche ich ganz, ganz tolle
Ferien in der Sonne + Wärme. Abstand tut immer gut, brauch‘ ich zur Zeit auch!
Alles alles Gute + Liebe und bis
in zwei Wochen
Dein Sohn(emann)