Samstag, 1. November 2014

Brief Florian 1. November 1997




1. November 97

Liebe Gabi,

mittlerweile ist hier richtig Winter; die Luft ist klar und kalt und verbreitet den Geruch von verbranntem Torf. Es ist, im anthroposophischen Sinne, die Zeit des „In-Sich-Hineinkehrens“. Nachdem man im Sommer draußen in und mit der Natur gelebt hat, zieht man sich jetzt in sich zurück. Natürlich hat dieser Gedanke ganz reale und selbstverständliche Züge, trotzdem denke ich, es ist gut, sich diese Tatsache noch einmal klarzumachen. Hier liegt vielleicht auch die Antwort, warum gerade im November so viele Menschen sterben oder Selbstmord begehen. Durch Kälte und Regen wird man zurück in sich selber getrieben, trifft häufig Dinge, die schon längst vergessen und überwunden schienen.
Erinnerst Du Dich, als ich Dir über diese unglaubliche Energie erzählt habe, die mir die Sonne verlieh?! Dies war eine Zeit, in der ich jede Minute draußen verbringen wollte, wo ich voller Ehrgeiz und Energie war. Nun setzt der umgekehrte Prozeß ein und ich quäle mich mit Langeweile und Desinteresse.
Ich habe mir vorher nie große Gedanken über das Wetter und die Jahreszeiten gemacht, kann jetzt aber ihren Einfluß und ihre Bedeutung erkennen!
Ich denke, das Problem ist nicht die Phase an sich, sondern die Umstellung: Man muß seinen Tag, seine Freizeit und seine Interessen neu ordnen und organisieren. Dies im Frühling sehr viel leichter als im Herbst, da die Natur und das Draußensein weit mehr Alternativen und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten als das Zimmer. Weniger Ablenkung und Beschäftigungen wie Lesen & Schreiben geben einem mehr Zeit, über Zukunft, Vergangenheit, sich selbst und andere Menschen nachzudenken.
......

Euch wünsche ich ganz, ganz tolle Ferien in der Sonne + Wärme. Abstand tut immer gut, brauch‘ ich zur Zeit auch!

Alles alles Gute + Liebe und bis in zwei Wochen

Dein Sohn(emann)

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