Dienstag, 2. Oktober 2018

Meine Lehrer


Wie die Bäume sich im Wind biegen und nicht brechen, 
wie das Wasser ohne Ausnahme bergabfließt,
wie die Möwe auf der Luft ruht –
je stärker der Sturm, desto besser gelingt es ihr –,
wie du nicht sprichst, auch wenn Worte dich drängen, 
wie Kiesel Wellen über sich hinwegehen lassen,
auch wenn sie mit jeder Welle etwas kleiner werden, 
wie ein Kreis keine Ecken hat, 
wie die Rehmutter trotz des Todes ihres Kitzes 
im letzten Winter, im Frühjahr wieder ein Junges gebiert, 
wie du den Ernst im Blick aushältst, 
wie der Tod unerkannt neben dem Leben steht, 
wie das Wasser bei null Grad friert,
wie es eine letzte Bahn und einen ersten Bus gibt,
wie eine Fähre zwei Landmassen verbindet, 
wie ein Schiff schwimmt, weil es Wasser verdrängt,
wie ein Wort eine ganze Welt für dich ist,
wie man wieder dort ankommt, wo man losgegangen ist,
wenn man weit genug auf der Welt geht,
wie die Beschreibung eines Erlebnisses
nicht das Erlebnis selbst ist, 
wie jedes Ende ein Anfang ist, 
wie durch Geduld eine neue Wirklichkeit entsteht,
wie jede Täuschung darauf wartet, 
aufgehoben zu werden,
wie Worte fühlbar sind, wenn sie gefühlt gesagt wurden,
wie das Universum mit etwa siebzig Kilometern 
in der Sekunde auseinanderstrebt,
wie es in jedem Buch eine letzte Seite gibt,
wie wir nicht lange ohne Wasser leben können
auch nicht ohne Wasser des Lebens, 
wie du unter, hinter und vor allem
lieben und geliebt werden willst,

das sind meine Lehrer, 
die ich mir von morgens bis abends
zu Herzen nehme, 
und in der Nacht, wenn ich schlafe, 
in meine Träume bitte.


Ulrich Schaffer
29. September 2018

Foto: Türklopfer: Geschenk von Florian zum Geburtstag 1999

Keine Kommentare: