Samstag, 2. Oktober 2010

Lesung: Vom Atmen unter Wasser

Lisa-Marie Dickreiter und Andrea Sawatzki
Nun habe ich ein von beiden signiertes Exempar... und bin reicher um einen wirklich "wunder"voller Leseabend.
Sehr eindringlich und eindrücklich las Andrea Sawatzki und stelle Lisa - in ihrer Bescheidenheit -dennoch nicht in den Hintergrund. Eingespielte Szenen aus dem Film rundeten das Bild und die Eindrücke ab. Danke Lisa-Marie Dickreiter noch einmal für dieses Buch!
Hier eine Leseprobe für Euch:
SIMON

Mit sieben Jahren beschloss ich, meine kleine Schwester für immer loszuwerden.
Wir saßen allein in der Küche. Sarah in ihrem Laufstall, für den sie längst zu alt war, und ich am Tisch vor meinem Müsli. Wo meine Mutter an diesem Morgen war, weiß ich nicht, und auch nicht, was sie getan hat. Vielleicht goss sie draußen im Garten die Beete, bevor die Sonne zu hoch dafür stand. Vielleicht hängte sie die Wäsche auf. Wir haben nie darüber gesprochen.
An alles andere erinnere ich mich noch ganz genau: An Sarah, die im Laufstall ihre Puppe mit Papierschnipseln fütterte und dabei unaufhörlich vor sich hinplapperte.
„Und ein Hapa für Mama. Baby Simon.“
„Und ein Hapa für Papa, Baby Simon.“
An meine dampfende Kakaotasse, die unerreichbar auf dem Küchenschrank stand, und die ich erst bekommen würde, wenn ich das Müsli aufgegessen hatte. Das Müsli. Eingelegte Körner, von meiner Mutter am Vorabend geschrotet, dazu geriebene Äpfel, zermatschte Bananen und Sanddornsaft. Jeden Löffel würgte ich in Zeitlupentempo hinunter. Die Bananenstückchen waren schon ganz braun und fühlten sich auf der Zunge wie schleimige Schnecken an, doch ich traute mich nicht, mein Müsli noch einmal ins Klo zu kippen. Es würde bestimmt wieder was an der Brille oder am Deckel kleben bleiben, das mich meiner Mutter verriet.
Der nächste Löffel. Ich hielt mir die Nase zu und schob ihn in den Mund. Schluckte, ohne zu kauen.
„Simi Hapa.“ Sarah klatschte und strahlte mich durch das Holzgitter hindurch an. Ich streckte ihr die Zunge raus. Ein Bananenstückchen fiel auf den Flickenteppich und ich trat es mit meinen Strohschuhen fest. Ich hätte viel lieber Cornflakes gegessen, aber die bekam nur noch Sarah, weil ich für die Schule ein lang anhaltendes, energiereiches Frühstück brauchte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sich auf dem Boden wälzte und schrie. Und ich nicht.
Ich spähte durch das Küchenfenster in den Garten hinaus.
Meine Mutter war immer noch nicht zu sehen.
Ich lauschte.
Meine Mutter war immer noch nicht zu hören.
„Und ein Hapa für Sarah, Baby Simon.“
Auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich ließ den Löffel ins Müsli fallen und sprang vom Stuhl. Rasch klaubte ich das Milchgeld und einen Lolli aus der Tonschale. Dann hievte ich Sarah aus dem Laufstall. Zweimal rutschte sie mir aus den Armen und plumpste auf den Boden zurück. Sie war schwer und das Holzgitter hoch.
„Komm“, sagte ich, als ich sie und Baby Simon endlich draußen hatte, „ich zeig dir was.“
Ich steckte meine Pocketkamera ein, ohne die ich damals nirgendwohin ging, nahm Sarah an die Hand, und schon waren wir zur Haustür raus und liefen die Straße zur Bushaltestelle hinunter, so schnell es ihre kurzen Beine erlaubten. Auf der Bank wartete bloß eine alte Frau, die in einer Zeitung blätterte und nicht zu uns herübersah. Ich zog Sarah zum Fahrplan, der an der Seitenwand des Unterstandes hing. Viel zu weit oben und nichts da, worauf ich hätte klettern können. Ich versuchte es mit Hüpfen, aber das brachte nichts. Mal stieß ich gegen den Mülleimer, mal schrammten meine nackten Knie die Seitenwand entlang.
„Frosch.“ Sarah kicherte und schlenkerte Baby Simon auf und ab.
Die Zeitung raschelte.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf in die Höhe. So konnte ich am unteren Rand der Tafel ein paar Ortsnamen lesen. Es dauerte, bis ich sie entziffert hatte. Ich ging in die zweite Klasse und Lesen war nicht gerade meine Stärke, doch jetzt gab ich mir alle Mühe, denn ich musste den richtigen Ort aussuchen. Sarah zappelte an meiner Hand.
„Lass das.“ Ich hielt ihr den Lolli hin.
Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Ortsnamen. Ich brauchte einen, den ich noch nie zuvor gehört hatte, einen, der so klang, als wäre er weit weg von meinem Zuhause. Weit genug für eine Dreijährige.
Kirchzarten.
Buchenbach.
Sankt Peter.
Wagensteig.
Sankt Märgen.
Seelgut.
Ich entschied mich für Bus Nummer Neunzehn. Beim Einsteigen half ich Sarah. Die Stufen waren hoch, und ich hatte Angst, dass sie stolpern und dann zu heulen anfangen könnte.
„Zwei Mal nach ... Sankt ... Märgen ... Bitte.“ Ich hielt die Luft an. Hoffentlich hatte ich es richtig ausgesprochen.
„Zwei Mal Sankt Märgen.“ Der Busfahrer nickte und drückte ein paar Knöpfe an seiner Kasse. „Das macht drei Mark für dich, junger Mann. Deine Schwester kostet noch nichts.“
Drei Mark!
Die Münzen in meiner Faust fühlten sich viel zu leicht an.
„Ich will. Ich will.“ Sarah ließ Baby Simon fallen und zerrte an meinem Arm. Ich schüttelte ihre Hände ab.
„Ich will.“ Sie verzog den Mund zu einer weinerlichen Schnute. Also gab ich ihr das Milchgeld und sah zu, wie sie die einzelnen Münzen umständlich auf den Zahlteller legte. Niemand im Bus wurde ungeduldig. Nicht einmal die alte Frau auf den Stufen hinter uns, die schwerfällig schnaufte.
„Na, du kleiner Sonnenschein.“ Der Busfahrer lächelte, so wie alle Leute bei Sarah lächelten. Seine dicken Finger wischten die Münzen vom Zahlteller.
Drei Mark!
Wie gebannt starrte ich auf die Busfahrerlippen, die sich lautlos bewegten.
„Das ist zu viel.“ Er reichte mir ein Fünfzig-Pfennig-Stück.
„Danke“, sagte ich, „vielen Dank.“
Noch ein Knopfdruck und aus der Kasse schob sich ratternd eine grüne Fahrkarte. Ich hob Baby Simon auf, nahm Sarah an die Hand und setzte mich mit ihr auf einen Platz in der hintersten Reihe.
„Meins!“ Sie versuchte meine Finger aufzubiegen, die ich um das Fünfzig-Pfennig-Stück geschlossen hatte. Ihre Hände waren warm und klebrig. „Ich will das haben!“
Für fünfzig Pfennig konnte ich mir bei Frau Seger einen Schokoladenhalbmond kaufen. Oder eine Capri-Sonne. Mein Mund war ganz trocken, und ich hatte schrecklichen Durst.
„Ich will das haben. Ich!“ Sie wurde laut.
„Schon gut.“ Ich öffnete meine Faust. Sarah grapschte sich das Fünfzig-Pfennig-Stück und steckte es in die Brusttasche ihrer Latzhose.
„Meins“, sagte sie noch einmal.
„Ja, ja, deins.“ Ich wischte meine klebrigen Finger am Sitzpolster ab, dann bückte ich mich und band ihr ein letztes Mal die Schnürsenkel zu. Vorsichtshalber machte ich Doppelknoten.
„Willst du da hinfahren, wo der kleine Bär und der kleine Tiger wohnen?“, fragte ich leise. Sarah nickte wild.
„Nach Panama“, rief sie und klatschte. Baby Simon fiel wieder auf den Boden. Ein paar Köpfe drehten sich zu uns um. Blicke streiften mich. Ich spürte, wie ich rot wurde.
„Genau“, flüsterte ich und hob Baby Simon auf. „Und weißt du was? Der Bus hier fährt nach Panama.“
Sarah strahlte mich an, und in diesem Moment verlangsamte der Fahrer das Tempo. Die nächste Haltestelle. Ich sprang von meinem Platz.
„Bleib schön sitzen“, sagte ich und stieg aus. Sarah winkte mir durch das Rückfenster zu. Ich winkte zurück und zog die Pocketkamera aus der Jackentasche.
Der Bus stand und stand.
Sarah winkte und winkte.
Endlich leuchtete der Blinker auf, der Auspuff gab ein tiefes Röhren von sich und blies mir warme, stinkende Luft ins Gesicht. Ich drückte mein rechtes Auge auf den Sucher, aber vor lauter Aufregung kniff ich es genauso fest zu wie das linke. Alles verschwamm, löste sich in helle und dunkle Schemen auf, und nur das ratschende Geräusch des Rädchens, mit dem ich Foto für Foto weitertransportierte, sagte mir, dass sich Sarah aus meinem Leben entfernte.
Ich knipste, bis mir die Arme weh taten. Dann ließ ich die Pocketkamera sinken und schaute mich um. Autos fuhren an mir vorbei, an der Haltestelle unterhielten sich zwei Frauen, und gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ging ein Mann mit seinem Hund spazieren. Niemand beachtete mich, niemand hatte etwas bemerkt.
Ich war Sarah losgeworden!
Wie einfach!
Ich hob den Arm mit der Pocketkamera wieder hoch und streckte ihn so weit von mir weg, wie ich konnte. Dann knipste ich mich selbst. Drehte das Rädchen. Knipste. Nach fünf Fotos war Schluss. Ich verstaute die Pocketkamera in meiner Jackentasche, machte kehrt und hüpfte die Straße entlang. Doch anstatt gleich nach Hause zu laufen, schlug ich einen Umweg nach dem anderen ein.
Ich brauchte Zeit.
Ich brauchte eine Geschichte. Eine Geschichte, die Sarahs Verschwinden erklären und meine Eltern beruhigen würde.
Ich schwitzte.
Ich lief und lief.
Als ich am Hof vom alten Ibele vorbeikam und ihm zusah, wie er mit einer Stange im Plumpsklo herumstocherte, fielen mir Pelle und Lotta ein. Natürlich! Dass ich da nicht früher dran gedacht hatte!
Pelle zieht in ein Klohäuschen.
Lotta zieht in eine Rumpelkammer.
Beide Bücher hatte ich nicht besonders gemocht. Ich fand sie langweilig, so ganz ohne Drachen und Räuber und Ritter, aber wie froh war ich jetzt, dass ich sie für die Schule hatte lesen müssen. Zusammen mit meiner Mutter. Sie wusste also auch, dass kleine Kinder manchmal ihre Familien verlassen und wegziehen. Ohne großen Grund. Und Sarah war heute Morgen eben ohne großen Grund nach Panama gezogen.
Jetzt traute ich mich nach Hause.
Ich hüpfte.
Ich sprang.
Ich sang.
Ich öffnete das Gartentürchen. Auf unserer Treppe stand eine fremde Frau. An der einen Hand Baby Simon, an der anderen meine Schwester mit einem großen Eis. So langsam wie möglich durchquerte ich den Garten, doch die Minischritte nützten nichts. Meine Mutter kam mir entgegen. Sie sagte kein Wort.
Jetzt konnten mir weder Pelle noch Lotta helfen.
Sie packte mich und verpasste mir eine Ohrfeige. Die erste meines Lebens. Dann ließ sie mich stehen.
Sarah winkte mir zu.
Sarah schleckte an ihrem Eis.
Sarah plapperte aufgeregt vor sich hin.
Ich hielt mir meine schmerzende Wange und begriff, dass ich mit meinem Versuch, sie loszuwerden, zu lange gewartet hatte: Sie konnte unsere Adresse schon auswendig.

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