…….“Sie haben viele und
große Traurigkeiten gehabt, die vorübergingen. Und Sie sagen, dass auch dieses
Vorübergehen schwer und verstimmend für Sie war. Aber, bitte, überlegen Sie, ob
diese großen Traurigkeiten nicht vielmehr mitten durch Sie durchgegangen sind?
Ob nicht vieles in Ihnen sich verwandelt hat, ob Sie nicht irgendwo, an
irgendeiner Stelle Ihres Wesens sich verändert haben, während Sie traurig
waren? Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die
Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und
töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen
Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind
ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem man sterben kann. Wäre es
uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über
die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere
Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind
die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes;
unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück,
es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin
und schweigt….“.
Rainer Maria Rilke
An Franz Xaver Kappus
12. April 1904
Bild: Mikhail Nesterov
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