Donnerstag, 13. November 2008

Abschied (R. Tagore)




Abschied

Ich laß dich allein, ganz allein.
Wenn du am Morgen mit leerem Schoß
mich rufst: „Kindlein, wo bist du bloß?“
werd ich sagen: „Nein – da ist kein Kindlein.“
Mama, ich laß dich allein.


Im Winde werde ich als Wind
wehen, Mama, anrühren deine Brust gelind –
mit deiner Hand kannst du nicht fangen mich.
Im Wasser wird ich, Mama, eine Welle sein,
damit niemand erkennen kann dein Kindlein –
werde mit dir spielen, wenn du badest dich.

Wenn der Regen vom Himmel rinnt,
wachst du nachts und denkst an dein Kind.
Mein Lied will ich in Schauern von jenem Walde singen.
Von den Wolken durch das Fenster werde ich
im Leuchten des Blitzes besuchen dich –
wird dann in deinen Sinnen mein Lachen erklingen?

Mama, wenn des Kindleins wegen
nachts noch spät du wach gelegen,
werde ich ein Stern und sag: „Schlaf ein.“
Bist du eingeschlafen dann,
tret ich als Mondschein an dein Bett heran –
auf denen Augen werde meine Küsse sein.

Durch den Schlitz der Augen werde ich
als Traum besuchen, Mama, dich
und leben in deinem Schlafe mittendrin.
Erwachend wirst du mit der Hand
in falscher Hoffnung tasten an des Bettes Rand –
verschwinden werde ich, wer weiß wohin.

Wenn zur Festtagszeit vor unserm Haus
viele Kinder spielend rennen ein und aus,
wirst du sagen: „Nein – Kindlein ist nicht da.“
Ich will dann in Flötenmelodien
durch den Himmel auf und nieder ziehen –
und bei dir sein, sein jeder Arbeit fern und nah.

In der Hand ein Festtagshemd für mich
kommt und fragt die Tante dich:
„Wo ist dein Kindlein hingegangen?“
Sag dann: „Kindlein kann doch nicht verloren sein!
In den Sternen dieser Augen mein
Wohnt es, im Schoß, in meiner Brust gefangen.“


Rabindranath Tagore

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