Freitag, 22. Januar 2010

Die schwersten Wege



Die schwersten
Wege werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden, die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt, den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.

Stehenbleiben und sich Umdrehen
hilft nicht. Es muß
gegangen sein.

Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt
und in deinem Haus
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen -
und du ihre Stimme wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen.

Hilde Domin

Hab Dank, liebe Christine, für dieses wunderschöne Gedicht!
Es mußte einen eigene Platz im blog erhalten...

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

*Niemals vermag die Zeit dem Vogel einen Flügel zu entreißen.
Vogel und Flügel sterben gemeinsam,
als eine Feder.
Denn kein Geschöpf, das jemals flog,
weder die Lerche noch du,
wird von uns gehen,
wie es andere tun.*

(Emily Dickinson)

Ein lieber Gruß

Anna Maria