Dienstag, 20. April 2010

Mein Sohn..


I

Mein Sohn, Fleisch meines Fleisches du und Herzblut meines Herzens,
Mein Vogel du des armen Hofs, du Blume meines Schmerzens.
Wohin bist du geflogen, Sohn, wohin bist du gegangen?
Jetzt ist das Vogelbauer leer, die Quelle ohne Wasser.
Wie konnten deine Augen sich nur schließen? Meine Tränen —
Siehst du sie nicht? Starr, wie du bist, vernimmst du nicht mein Stöhnen.

II

Gelocktes Haar, durch das ich mit den Fingern in der Nacht gestrichen,
wenn du schliefst, und ich, ich habe dich bewacht.
Brauen der Augen ihr, so schön gebogene und schmale.
Auf denen meine Blicke sich ausruhten alle Tage.
Die klaren Augen, die in sich des Morgenhimmels Ferne gespiegelt
ich gab acht auf sie, dass trübt sie keine Träne.
Im Wohlgeruch der Lippen, wenn du sangst, die Steine blühten,
Und Nachtigallen flogen auf, und dürre Bäume grünten.

III

An einem Maitag gingst du fort, ich habe dich verloren
An einem Frühlingstag im Mai, wo du wie neugeboren
Auf die Terrasse stiegst, mein Sohn, und ohne satt zu werden
Mit deinen Augen trankst das Licht, das Licht der ganzen Erde.
Und du erzähltest mir so viel, mehr als es Kiesel immer
Am Strande gibt, und männlich war und süß auch deine Stimme.
Du sagtest mir, mein Sohn, daß all dies Schöne auf uns komme,
Doch nun, da du erloschen bist, erlosch auch unsre Sonne.

IV

Du bist erloschen, du mein Stern, vergangen ist total
Die ganze Schöpfung, und pechschwarz glänzt jetzt der Sonnenball.
Die Leute stolpern über mich, es tritt ein ganzes Heer
mich nieder,
doch ich sehe nur dich, mein Blick läßt nicht von dir.
Ich habe mich erhoben, sieh: mich tragen meine Beine,
Ein heitres Licht hat mich, mein Held verjüngt mit seinem Scheine.
Jetzt, von den Fahnen eingehüllt, jetzt schlaf mein Kind, ich gehe
Zu deinen Brüdern, denn ich will mit deiner Stimme reden.

V

Gut warst du, süß, es warn in dir die besten Eigenarten,
Die Zärtlichkeit des Windes und der Veilchen unsres Gartens.
Du tratst leichtfüßig wie ein Reh auf unsre Schwelle, sieh: Sie leuchtet wie Gold!
Durch deine Jugend ward ich jung und konnte wieder lachen,
Und, meines Alters nicht gewahr, könnt ich den Tod verlachen.
Wie werde ich mich halten jetzt, auf wen mich stützen, gehen wohin?
Muss ich, einsamer Baum, im Schnee der Ebne stehen?


VI

Am Fenster standest du, mein Sohn, und deiner Schultern Breite
Verdeckten ganz das Fenster und das Meer mit seiner Weite.
Dein Schatten überflutete das Haus erzengelgleich,
An deinem Ohr der Abendstern, er schimmerte so bleich.
Und unser Fenster war die Tür zur ganzen Welt, sie ging Ins Paradies, mein Licht, dorthin, wo alle Sterne sind.
Und wie du dastandest und sahst der Sonne rotes Banner,
Warst du auf einmal Steuermann und Schiff war unsre Kammer.
An diesem Abend, mild und blau, fuhrst du mich — eja lessa! —
Mit deinem Segelschiff hinaus zum stillsten der Gewässer.
Das Schiff, es ist versunken, und zerbrochen ist der Mast,
Des Meeres Tiefe aber hat mich Einsame erfasst.


VII

Hätt eine neue Seele ich, den Born des neuen Lebens,
Ich hätte dich geweckt, damit du sehn kannst: nicht vergebens
Hast deinen Traum geträumt du, sieh: Er steht vor dir und lebt,
Er geht an deiner Seite, und die Straße, sie erbebt.
Es dröhnen alle Märkte und die Gassen, der Balkon,
Die Mädchen pflücken für dein Haar die Blumen, ach, mein Sohn.
Mit deinen beiden Händen, die ich tausendmal berührte,
Hab ich die Erde ganz umfasst, als ob sie mir gehörte.


VIII

Mein Sohn, was für ein Schicksal war dir in der Brust bereit,
Und was bereitet Kummer mir, dass alles in mir schreit.
Mein Süßer, du bist nicht verlorn, du lebst in meinem Blut,
Und in den Adern aller lebst du noch nach deinem Tod.

© Yannis Ritsos - Übertragen von © Heinz Gzechowski

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke, ganz herzlich Dank,
liebe Gabi.

Wissend, verstehend, mitfühlend,
ergriffen und tief bewegt

deine
Anna Maria