"Und manchmal, während wir so schmerzhaft reifen, dass wir beinahe daran sterben, erhebt sich aus allem, was wir nicht begreifen, ein Gesicht und sieht uns strahlend an" Rainer Maria Rilke
Mittwoch, 22. April 2009
Das Jahr ist ein Kreis
Das Jahr ist ein Kreis. Der Winter geht in den Frühling über; aus dem Frühling geht der Sommer hervor, und im Herbst gelangt das Jahr zu seiner eigenen Vollendung. Der Kreislauf der Zeit wird niemals unterbrochen. Derselbe Rhythmus manifestiert sich im Tag: Auch er ist ein Kreis. Zuerst entsteigt der Finsternis der Nacht der neue Morgen, dann erstarkt er zum Mittag, senkt sich gen Abend und taucht zuletzt abermals in die Nacht ein. Da wir in der Zeit existieren, ist auch unser Leben ein Kreis. Wir gehen aus dem Unbekannten hervor. Wir erscheinen auf der Erde, leben auf ihr, beziehen unsere Nahrung von ihr und kehren zu guter Letzt zu ihr, ins Unbekannte zurück. Auch die Ozeane folgen diesem Rhythmus: Die Flut steigt und steigt, erreicht ihren Höhepunkt und wendet sich dann wieder zur Ebbe. Der ewige Wechsel der Gezeiten ähnelt dem Rhythmus unseres Atems: Auch er steigt in uns, bis wir vollkommen ausgefüllt sind, und fliesst dann wieder ab ins grosse Luftmeer.
Das Bild des Kreises verleiht dem Alterungsprozess eine neue, schöne Perspektive. Mit dem Älterwerden wirkt die Zeit auf unseren Körper, auf unsere Erfahrung und vor allen Dingen auf unsere Seele. Altern ist einerseits ein schmerzlicher Prozess. Wenn unser Körper altert, verlieren wir nach und nach die natürliche Spannkraft und Vitalität der Jugend. Wie eine unerbittliche Tide beginnt die Zeit, unmerklich erst, an der Membran unserer Kraft zu nagen. Sie wird ihr Erosionswerk immer weiter fortsetzen, bis unser Leben schliesslich vollkommen abgetragen ist.
John O’Donohue „Anam Cara“
Foto: Wien - Zentralfriedhof
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