Mittwoch, 15. Oktober 2008

Briefe - nie abgeschickt!

Auf meinen Knien liegt ein kleines Tagebuch. Ich fand es beim Aufräumen, zufällig, hatte seine Existenz völlig vergessen: „Abschiedsbuch“ habe ich es genannt. Es sind - nie abgeschickte Briefe an Florian, die ich nach seiner Abreise nach Irland schrieb.
Ich wollte ihn mit meiner Traurigkeit und meiner Sehnsucht nicht belasten.

Heute denke ich, sie sind der erste Schritt meines langen und später so schmerzlichen Abschieds von Florian gewesen.


15. September 1996

Liebster Florian,

Heute ist Montag, der erste Werktag seit Deiner Abreise nach Irland; der erste Abend, den ich hier alleine bin.
Die Wohnung kommt mir plötzlich so groß vor. Es fehlt jemand und ich habe das Gefühl, als würde ich jeden Moment den Schlüssel in der Eingangstür hören und das Plumpsen Deiner Schuhe im Flur... Du begrüßt mich kurz mit einem Kuss, hast es eilig die Zeitung zu bekommen – den „Wirtschaftsteil“ sagst Du, möchtest Du lesen - und ich weiß, dass auf der Rückseite der Sport ist....

Dass all dies für lange Zeit nicht mehr so sein wird, das ich muss ich erst realisieren und es tut so weh. Ich habe große Sehnsucht danach, mit Dir zu sprechen, Deine Stimme zu hören; ich habe den Impuls, in Irland anzurufen und weiß doch, dass ich dann all abendlich anrufen müsste.. Ich muss lernen, ohne Dich zu leben und kenne dies Gefühl doch schon ein wenig aus den letzten Tagen und Wochen. Der Abschied hatte längst begonnen, bevor Du Berlin verlassen hast....

Gestern hast Du zum ersten Mal angerufen und Du klangst gut. Kein Grund zur Sorge. Vielleicht fällt Dir dieser Abschied auch leichter als mir. Ich fühle mich eher in der Rolle derjenigen, die „verlassen“ wird, wogegen Du agierst, Du derjenige bist, der gegangen ist. Dich erwartet ein neues Leben, Unbekanntes, Ungewohntes und sicherlich auf Aufregendes. Ich bleibe in der gewohnten Umgebung, schaue auf die Dinge, die Du zurückgelassen hast. Ich werde Deine Klamottenberge noch eine Weile im Schrank liegen lassen. Sie vermitteln mir das Gefühl, als würdest Du wiederkommen, etwas abzuholen, etwas zu wechseln.

Ich weiß, dass Millionen Mütter diese Gefühle erleben und durchleben. Ich fühle mich ihnen allen heute innig verbunden!

I miss you Florian!


23. September 1996


Ich spüre an vielen Dingen, wie sehr ich mit meinem Abschied von Dir beschäftigt bin:

Ich ziehe mich sehr zurück, genieße das Alleinsein, ich hänge Tagträumen nach, meinen Gedanken an Dich.
Ich habe mir heute Fotos angeschaut – Babyfotos von Dir. Ich war auf der Suche nach Gesichtsausdrücken, die mir sagen, dass Du damals zufrieden warst mit Deinem kleinen Leben.

Ich liebe Deine Kinderfotos, weil sie so vielfältige Gesichter von Dir zeigen, mir Erinnerungen zurückbringen. Wenn ich das Foto sehe, wir beide in München auf unserem Mini-Balkon vor Deinem Kinderzimmer, dann höre ich Dich Quietschen vor Begeisterung in Deiner kleinen Plastikwanne – unter uns ein großer Sportplatz. Du konntest den Kindern beim Fußball zuschauen.

Ich sehe die Fotos von F. und mir an und in diesem Moment bin ich versöhnt mit ihm. Er ist Dein Vater und damals war er ein liebevoller Vater für Dich. Ich versuche, die Dinge aus Deiner Warte zu sehen. Das wirft ein anderes Licht auf sie.

Auf einem anderen Foto trägst Du mit T. einen viel zu großen Einkaufskorb – jeder einen Henkel – Du über Deiner kleinen Schulter, T. an der Hand. Ich mag dieses Foto so, weil Du so stolz, so fröhlich schaust und ich weiß, dass es Dir damals gut ging.
Ich kann die Bilder mit einem Mal unabhängig von meinen Gefühlen für diese beiden Männer betrachten. Von beiden trägst Du etwas in Dir und vielleicht versuche ich auch, die Anteile zu finden, die dazu beigetragen haben, dass Du heute bist, wer Du bist.

Ich brauche in diesen Tagen wenig Außenkontakt, ohne dass ich das Gefühl habe, mich zu isolieren. Ich brauche Ruhe, ich suche Stille. Ich möchte auf meine Art bei Dir sein und mir die Zeit nehmen, mich daran zu gewöhnen, dass es nie mehr so sein wird wie damals.

Ich denke, dass meine Bedeutung für Dein Leben mehr und mehr abnehmen wird.
Ich kann Dich noch begleiten, vielleicht beraten, wenn Du es möchtest. Deine Liebe und Deine Gedanken wirst Du mehr und mehr mit anderen Menschen – Freunden, vielleicht einer Freundin – teilen.

Ich spüre, wie viel Raum Du in meinem Leben eingenommen hast, wie sehr Du seinen Rhythmus über all die Jahre bestimmt hast.

Du hast längst hier begonnen, Dich freizuschwimmen – mehr und mehr und mir hin und wieder das Gefühl vermittelt, zu stören, überflüssig zu sein. Wenn Du Kummer hattest, dann kamst Du zurück. Vielleicht wird dies so bleiben?

In Deinen ersten Briefen schreibst Du nicht viel über Deine Gefühle dort in Irland.
Du scheinst Dich ein wenig gepanzert zu haben, vielleicht brauchst Du dies auch.
Ich bedauere es dennoch, weil Du mir so auch keine Möglichkeit gibst, Dir über die ersten Hürden dort hinwegzuhelfen. Deine Stimme am Telefon klingt nicht traurig.
Vielleicht bin ja wirklich nur ich es... Ich fühlte mich bei unserem Telefon so hilflos: ich saß hier mit schweren, hängenden Armen. Ich kann sie nicht mehr um Dich legen, Dich nicht einmal trösten, weil Du mir Deine Gefühle nicht zeigst.
Auch dies, Florian, ist sicherlich ein „Blick in die Zukunft“, auch an dieses Gefühl muss ich mich gewöhnen.



17.10.1996

Happy Birthday, mein großer Junge!

Ich sitze am Fenster und schaue in einen trüben Herbsttag. Noch blühen die kleinen roten Rosen aber zwischen ihren Blüten liegen bereits bunte Blätter... Herbst!

Wärst Du heute hier, saßen wir jetzt zusammen, Familie, Deine Freunde und unsere Nachbarn. Wir würden feiern, lachen, Du wärst Mittelpunkt und ich stolz auf Dich.
Du hättest Dir den Apfelkuchen und die Schokotorte gewünscht, später gäbe es den obligatorischen Badischen Wurstsalat... Wenn Hans-Jürgen aus dem Büro käme, würde der Sekt geöffnet....

Ich bin traurig, liebster Florian, Du fehlt mir heute besonders. Ich möchte Dich feiern, ich möchte Dir so gerne das kleine Fest ausrichten. Du warst bescheiden an diesem Tag, wolltest keine Parties, hattest keine unerfüllbaren Wünsche.
Weißt Du noch, wie schön Du es gefunden hast, wenn wir ganz früher zum Abschluss Deines Geburtstages zusammen mit Deinen Freunden die Lampions anzündeten und durch unsere Straße zogen und sangen... Wie klein Du damals noch warst, wie lange dies alles zurück liegt!

Jetzt feierst Du in Irland, wirst das dortige Ritual erleben mit den Menschen um Dich herum, die Dich jetzt begleiten. Ich wünsche Dir so sehr, dass Du dort Freunde und mit Camphill auch ein wenig Familie erleben wirst.

Gleich rufe ich Dich an und freue mich auf Deine Stimme: Happy Birthday, Florian!

Deine Mom

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Ich lese in meinem alten Leben – ich finde diese Briefe, die mir fast das Herz brechen – ich stehe - 13 Jahre später - vor der Aufgabe, den Geburtstag meines „Sohnes im Licht“ vorzubereiten.
Was für eine Aufgabe, die mir das Leben stellt!
Unbegreiflich der Verlust in diesen Tagen.. unaussprechlich, wie sehr das Herz nach Florian ruft. „Dich nur einen Augenblick berühren, Florian, Deine Stimme hören, Dein Lachen“....
Ich gäbe mein Leben für diesen Moment!
Ich werde nicht gefragt – ich bin nicht gefragt worden!
Rest in Peace, Florian.
Mom


Foto: Florians Geburtstag 1995

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke liebe Gabi - Danke, dass Du uns daran teilhaben läßt.

Fühl Dich fest umarmt
Anita


"Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen."
Albert Schweitzer

Anonym hat gesagt…

Auch ich möchte Dir danke für diese Worte sagen und Danke das Du Deinen Blog so liebevoll führst, auch für uns.
Alles Liebe
Gaby

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank, dass ich mich in Ihren Worten wiederfinden kann, die ich so nie formulieren könnte und die mir doch so sehr aus dem Herzen sprechen. Lebenshilfe für mich auf diesem Weg ohne meinen Sohn, den ich so unendlich vermisse.

Heidi