Dienstag, 5. März 2013

Aus der Zeit fallen

An eine Grenze stoßen

Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Vorgestellt von Natascha Freundel
David Grossman © picture-alliance / dpa Fotograf: Andreas Gebert Detailansicht des Bildes 

David Grossman verabeitet mit diesem Buch den Tod seines Sohnes. Der israelische Schriftsteller David Grossman hat in den letzten Tagen des Libanonkriegs im Sommer 2006 seinen Sohn Uri verloren.
Eine Rakete der Hizbollah traf den Panzer des Soldaten, während Grossman einen Roman darüber schrieb, wie eine israelische Mutter vor der möglichen Nachricht aus ihren Haus davonläuft, dass ihr Sohn bei einem Kampfeinsatz gestorben ist.
Für diesen Roman, der 2009 mit dem Titel "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" auch auf Deutsch erschien, und für sein Engagement gegen die Politik der Gewalt im Nahen Osten wurde David Grossman mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Erst jetzt aber hat Grossman für den tatsächlichen Verlust seines Sohns Worte gefunden: "Aus der Zeit fallen" heißt sein neues Buch im Carl Hanser Verlag.

Das Selbstverständliche wird fremd

David Grossman - Aus der Zeit fallen (Cover) © Hanser Verlag  

 Ein sehr persönliches Buch von David Grossmann: Er schreibt über seine Trauer um den im Libanonkrieg gefallenen Sohn. Wer ein Kind auf die Welt gebracht hat, fürchtet wohl nichts mehr, als dass diesem Kind etwas zustoßen könnte. Eine Krankheit oder gar - das Undenkbare - der Tod. Wie lebt man weiter, wenn das Kostbarste nicht mehr ist?
2010 spricht David Grossman von einem "Exil": "Die Welt verwandelt sich in Chaos in solchen Ereignissen. Es ist wie ein Exil. Alles wird dir fremd. Alles, was bisher selbstverständlich war, ist es nicht mehr. Du hinterfragst jede Einzelheit deines Lebens. Und du musst dich neu finden in beinah allen Kontexten. Ich kann das am besten durchs Schreiben."
Grossmans neues Buch "Aus der Zeit fallen" gibt diesem Exil nicht nur eine Stimme, sondern viele Stimmen. In denen sich der Leser wiederfinden kann, die aber zugleich auch Rollen des Autors selbst sind. Zu Beginn hören wir einem Paar beim Abendessen in der Küche zu.
Leseprobe:
Er: Ich muss gehen.
Sie: Wohin?
Er: Zu ihm.
Sie: Wohin?
Er: Zu ihm, nach dort.
Sie: An den Ort, wo es geschah?
Er: Nein, nein. Nach dort.
Sie: Was ist das: dort?
Er: Ich weiß nicht.

Trauernde Eltern

Der Mann, der jenes "dort" sucht, wird zum "Gehenden Mann". Er verlässt sein Haus und zieht in Kreisen um das Dorf, "vorbei an Häusern, Höfen, Brunnen und Feldern, an Kuh- und Ziegenställen und Stapeln von Brennholz". Die Szenerie ist alles andere als israelisch. Sie erinnert eher an Europa, zumal die Vorgänge von jemandem protokolliert werden, der "Chronist der Stadt" genannt wird und im Auftrag eines "Herzogs" unterwegs ist.
Dieser Stadtschreiber beobachtet wie besessen trauernde Eltern. Eine "Netzflickerin" am "Hafen", der der Verlust ihres Sohns die Sprache verschlagen hat; eine Hebamme, die stottert; ihr Mann, der Schuster, stopft sich Nägel in den Mund, seit die kleine Tochter tot ist. Da ist auch ein "Zentaur", halb Mensch, halb Schreibtisch. Er steckt fest in seinem Häuschen voll verstaubter Kindersachen und kann seit Jahren nicht mehr schreiben, dabei diktiert er dem "Chronisten":
Leseprobe:
"Ich bin nicht in der Lage, etwas zu verstehen, bis ich es nicht aufschreibe. Ich meine, wirklich verstehen, ganz genau! Was schaust du mich so an? - Wirklich schreiben, sag ich dir, nicht bloß wiederkäuen, was tausend Leute schon vor mir gekaut und ausgespuckt haben.- Ich muss es von Neuem erschaffen, in Form einer Geschichte! Kapiert? Na was wohl, du Idiot? Das, was passiert ist! Diese verfickte Sache, die mir und meinem Sohn da passiert ist."

Keine Homestory

"Aus der Zeit fallen" ist ein Buch über die Wiedergewinnung der Worte und auch des Dialogs, des Miteinanders in der Trauer. Der Text ist eine Komposition aus Poesie und Prosa, aus dem Hohen Lied der Totenklage, aus Märchen und existentialistischem Drama in beckett’scher Manier. Nur eines ist er nicht: Er ist keine Home-Story. Uri Grossmans Tod im Libanonkrieg schwingt nur hier und da in den Worten des "Gehenden Mannes" mit:
Leseprobe:
Einmal erzählte mir jemand aus einem fernen Land,
dort sagte man von einem, der im Krieg umkommt,
er sei "gefallen".
So auch du: Aus der Zeit gefallen bist du,
aus der Zeit, in der ich bin und an dir vorübergeh.
Nach und nach schließen sich dem "Gehenden Mann", der jenes "dort", der den Tod seines Sohns erreichen will, auch die anderen Figuren des Buchs an. Die Netzflickerin findet ihre Stimme wieder, die Hebamme stottert nicht mehr und zieht dem Schuster die rostigen Nägel aus dem Mund. Sie bilden schließlich einen Chor und stoßen, so weit geht David Grossman, tatsächlich an eine Grenze: eine Wand, in der sich die Schemen der verstorbenen Kinder abzeichnen.
Es ist nicht leicht, dem Text in seinem Pathos bis hierhin zu folgen: Das schrammt hart an der Kitschgrenze entlang. Aber jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird David Grossman für dieses Buch dankbar sein.

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