Freitag, 6. August 2010

Buchrezension "Vom Atmen unter Wasser"



Packend, schmerzhaft - und doch wunderschön!

Zuerst war der Film: „Vom Atmen unter Wasser“ und Lisa-Marie Dickreiter schrieb das Drehbuch dazu. Dass sie parallel dazu aus derselben Geschichte auch einen Roman entstehen ließ, war eine beglückende Eingabe und Idee, denn das, was Filme auslassen, können Worte erreichen – die Einbeziehung der eigenen Phantasie, des selbst Erlebten: ein ganz besondere Buch.

„Vom Atmen unter Wasser“ erzählt in einer ungewohnt präzisen, fesselnden Sprache vom Auseinanderbrechen einer Familie, in die der Tod von Sarah, der 16jährigen Tochter, wie ein Erdbeben eingebrochen ist – und nichts mehr so sein lässt, wie es einmal war.
Jeder der drei Protagonisten erlebt dieses Verbrechen, das nur aus den Gedankenfetzen der Mutter Anne noch einmal rekonstruiert wird, völlig anders und abgetrennt vom anderen:
Anne begeht am 1. Todestag von Sarah einen Suizidversuch und soll nun, auf Wunsch des Vaters Jo, der der unstillbaren Trauer seiner Frau völlig hilflos gegenüber steht, von Simon, dem gemeinsam Sohn, der das Elternhaus bereits verlassen hatte, beschützt werden.

Simon, der immer im Schatten seiner kleineren Schwester stand, und – unglaublich schön erzählt auf den ersten Seiten des Romans – als Kind einen Versuch machte, sich dieser kleinen, ungeliebten Schwester zu entledigen - zieht in das Elternhaus zurück und versucht auf seine Weise, mit Anne in Kontakt zu treten, sich ihr in ihrer Trauer zu nähern.

Für mich, die ich selbst trauernde Mutter bin und weiß, wie sich der Verlust eine Kindes anfühlt, sind die Szenen des Buches, die die Trauer von Anne und ihre Angst, Sarah könnte „verloren gehen“, aus der Welt fallen, so wie Anne selbst aus dieser Welt gefallen ist das Eindringlichste, Berührendste und Schönste, was ich seit langem gelesen habe:
Wenn Anne im Keller des Hauses den Wäschekorb, den sie vor den anderen versteckt hält, öffnet und die Wäschestücke, die Sarah getragen hat, einatmet, dann wird „Trauer“ sichtbar gemacht und ihr Ausmaß schmerzhaft erfahrbar!
Wenn Anne weiterhin mit Sarah spricht, Sarah dem kleinen Mädchen, Sarah am Abend des Mordes, als sie sich für die Party fertig macht und das Haus verlässt, dann ahnt man, dass dieses „Nichtloslassenwollen“, diese imaginäre Verbundenheit – ein wesentlicher Bestandteil der Trauer ist.
Jo hat den Zugang zu seiner Frau völlig verloren und aufgegeben. Simon gelingt er über ein gemeinsames Filmprojekt über Sarah und dieses „Mutter-Sohn-Projekt“ ist berührend schön geschrieben! Für kurze Zeit kann Simon Anne erreichen, dann trennen sich auch die Welten von Mutter und Sohn.

Hier noch einmal der kleine Monolog, der mich besonders berührt:
Anne (in die Videokamera von Simon):

„Manchmal hab ich einen sehr schönen Traum. Ich lauf durch die Strassen und zieh einen Koffer hinter mir her. Wenn mich etwas an Sarah erinnert, dann pack ich es ein. Eine Stimme... ein Lachen… dieselbe Haarfarbe…Ich finde immer mehr, mein Koffer füllt sich, wird schwer. Ich bin glücklich.
Ich geb dann den vollen Koffer am Friedhof ab, und da steht sie am Tor und wartet auf mich. Ich wink und renn auf sie zu. Und sie steht da und lächelt. Ich renn schneller – dann wach ich auf.“

Unsere Gesellschaft ist sich offenbar darin einig, dass der Tod eines Kindes das Schrecklichste ist, was einer Familie, einer Mutter, einem Vater widerfahren kann. In der konkreten Konfrontation allerdings erweisen sich eben diese Menschen sehr oft als unfähig zum entsprechenden Verständnis und der notwendigen Toleranz.
Dass es einer jungen Autorin gelingt, ein Familienschicksal so authentisch und überzeugend in einer immer wieder überwältigenden Sprache niederzuschreiben, das grenzt für mich an ein buchstäbliches Wunder. Ich möchte dieses Buch vor allem auch Menschen in der Trauer sehr ans Herz legen. Unter meinen Büchern hat es schon jetzt einen besonderen Platz!

Ich hoffe, dass wir von Lisa-Marie Dickreiter noch viel zu lesen bekommen und freue mich auf das nächste Werk von ihr! Danke, liebe Lisa-Marie Dickreiter für dies herausragende Buch!

Gabriele Gérard

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