Mittwoch, 17. Juni 2009

Buch des Abschieds 13



Montag, der 18.Juni 2001

Hi, my sweet son, my angel,

wenn ich schreibe, spreche ich deutsch mit Dir: dies ist wohl die Kapitulation vor der Sprache in schriftlicher Form. Wenn ich mit Dir spreche, spreche ich englisch und Du antwortest in der gleichen Sprache.... strange!

Heute nacht, Florian wurde ich wach und fühlte mich so glücklich - ich fühlte mich in Rosen gebettet und ich dachte ganz intensiv an Dich. Ich hatte in der Sekunde des Erwachens einen Satz im Kopf, der etwa so lautete....“Ich danke Dir für diese Nächte. In meinen Schlaf fallen Gedanken wie Blütenblätter, sie kommen von Dir. Sie sind leicht, sie sind unglaublich schön, Worte, Bilder, Gefühle....“ Ja, sie kommen von Dir.
Die Nächte sind meine Quelle der Kraft geworden. Sie sind ruhig, ich ersehne diese Ruhe in diesen Tagen und sie sind eine Quelle der Inspiration. Auch wenn ich mir die Dinge nicht merken kann, die dort geschehen, ich bin sicher, ich trage sie in mir. Tiefe Gefühle der Ruhe und des Ergebenheit in mein Schicksal begleiten die Nächte – ganz anders als die Tage.

Dies war von Anbeginn so. Du hast mir meine Nächte gelassen, die verdiente Ruhe und
das Schöpfen von neuer Kraft. Ich bin so erschöpft abends, so leer von allen Tränen und allem Schmerz des Tages. Ich lasse mich fallen, ohne Ängste, ohne Vorbehalte in diesen erlösenden Schlaf. „Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes“ sagt man. Vielleicht kann ich mich ihm deshalb so gut hingeben....

Ich bin zurück zur Arbeit heute und es tut mir gut. Es bündelt die Gedanken für eine Weile, zieht sie ab von meinem Trauerleben und ich empfand dies heute als eine „Ruhepause“....Ich habe Dir eine Kerze in meinem Büro angezündet, Deine Fotos sind dort und Du schaust mir bei der Buchhaltung über die Schulter.... Du hast doch gerne „Büro“ gespielt.... Du gibst acht, daß ich aufmerksam bin und meine Arbeit gut verrichte.

„ I don’t want to see you today, Mom“, sagtest Du zu mir als ich heute morgen zum Büro fuhr. Mir war flau, ich spürte wieder dieses Gefühl der Kraftlosigkeit – ich habe im Moment angst davor, an Deinem Grab zu sitzen.... ist das nicht verrückt? Ich will Dich nicht tot wissen, nicht die Gewißheit dokumentieren, noch nicht, ich habe doch noch einige Tage hier mit Dir.....

Der Kalender des letzten Jahres in dieser Woche ist voll:

Montag, 19. Juni 10.00 Flo Hautarzt

Du warst dort, die kleine Rechnung von ihr liegt im Kalender. Dein kleiner Fleck am Bein....Wäre es doch alles gewesen....

Abends war Männergruppe hier bei Hans-Jürgen. Alle haben Euch begrüßt, sich gefreut, Dich einmal wieder zu sehen.... bis spät in die Nacht saßen sie am Wasser....

Dienstag, 20. Juni 15.00 Flo Zahnarzt

Wir haben den Termin ausfallen lassen. Ich weiß heute nicht mehr weshalb. Du wolltest irgendwie nicht mehr.

Mittwoch, 21. Juni Friseur

Du warst bei Marti. Eimear war mit Dir dort und ich habe Euch beide abgeholt. Es war nicht viel von Deinem Haarschopf abgeschnitten worden - darauf achtetet Eimear schon. Sie liebte Deine langen, schönen Haare! (Nur wenig später wäre ich so froh gewesen, ich hätte eine der Haarsträhnen dort vom Boden aufgehoben und mitgenommen!)

Ich habe Euch mein neues Büro gezeig und wir beide haben die Küche ausgemessen, weil wir am nächsten Tag zu IKEA fuhren, wo ich die neue Küche bestellte.
Eimear war schr müde, schlief im Auto sofort ein. Es war alles immer sehr anstrengend für sie.

Donnerstag, 21. Juni 10.00 IKEA

Diese Bilder des gemeinsamen Einkaufs bei IKEA waren jahrelang eingebrannt in mein Gedächtnis. Ihr wart beide begeistert, habt Kleinigkeiten für die Wohnung gekauft, während ich die neue Küche bestellte. Eimear konnte sich nicht satt sehen - und Du hast die Stühle ausgesucht, die noch heute um den Esstisch in der Beratungsstelle stehen.. Jahrelang saß ich auf ihnen.. ich nannte sie "Königesstühle", wie sie ein leuchtend blaues Polster hatten.. von Dir gewählt!

Freitag, 22. Juni Mirco und Mirjam kommen zum Grillen

Hier berühren mich die Fotos sehr. Es enstand an diesem Abend das Foto, das einen Moment zwischen uns festhält - der so voller Rätsel ist, wie das, was dann geschah...
Warum, Florian?

Samstag, 23. Juni Stephan, Claudine und Michael

Sonntag, 24. Juni kein Eintrag

Ich weiß nicht mehr, was wir gemacht haben..... Es war ja nicht so wichtig. Wir schienen doch alle Zeit der Welt zu haben. Der bevorstehende Abschied... nur einer auf Zeit - und dann würdest Du wiederkommen...Abends saßen wir draußen, und dann hast Du Dich in der Küche von mir verabschiedet....

Aber dort sind wir noch nicht, Florian, wir sind erst am Beginn dieser Woche!


Samstag abend saßen Hans-Jürgen und ich draußen und gingen die Fotos der letzten Reise mit Dir im Juni 1999 zusammen durch. Die Irlandkarte lag vor uns und wir rekonstruierten unsere Route. Was waren dies für schöne, unbeschwerte Tage.... Die Fotos blieben damals liegen, es schien mir nicht wichtig, ein Album zu machen – es sollten noch so unendlich viele Irland-urlaube mit Dir folgen.....Nun saßen wir vor diesen Bildern und in mir wurden sie mehr und mehr zu einem Scherbenhaufen, einem zerstörten Traum, einem Rückblick in eine Zeit, die nicht mehr ist, in ein Leben, das geendet hat. Immer unvorstellbarer, daß es keine Reisen mehr mit Dir geben soll, daß dies UNSERE LETZTE IRLANDREISE MIT DIR WAR.
Nein, ich kann dieses Album nicht machen, nicht jetzt, ich will es nicht machen, ich will es nicht hinnehmen – alles in mir hat sich aufgebäumt und bäumt sich auf, wenn ich dies schreibe. Eine unendlich Resignation überfällt mich heute – eine Kapitulation vor dem, was unausweichlich geschah und geschieht. Ich konnte es nicht steuern, nicht aufhalten dieses Schicksal, mein Florian. Es hat mich zu Boden geschleudert, meine Träume zerstört, mein Leben angehalten. Noch immer halte ich den Atem an vor diesem Grauen, das mich immer wieder einholt.....

Hilf mir Florian, hilf mir Boden unter den Füßen zu behalten, step by step, Schritt für Schritt!
Deine Mom

Foto: Florian + Eimear bei der Familienfeier im Schwarzwald!

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